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    Kirchenpräsident Jung im Interview

    Flüchtlinge: „Wann hört Europa auf, dem Sterben zuzusehen?“

    nafas/pixelio.deFestung EuropaFestung Europa

    Kirchenpräsident Dr. Volker Jung hat sich für mehr Engagement bei der Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. www.EKHN.de dokumentiert das Interview, das in einem neuen „EKD-Dossier“ zum Thema Flüchtlinge erschienen ist.

    EKHNKirchenpräsident Dr. Volker Jung im Gespräch.Kirchenpräsident Dr. Volker Jung im Gespräch.

    Herr Kirchenpräsident Jung, Sie leiten die Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland. Welche Gedanken haben Sie beim Anblick der Fernsehbilder von Flüchtlingen vor Lampedusa oder von Lagern mit syrischen Flüchtlingen in Jordanien?

    Volker Jung: Seit vielen Jahren werden wir ja in schrecklicher Regelmäßigkeit mit solchen Bildern und Nachrichten von Männern, Frauen und Kindern konfrontiert, die bei ihren Versuchen, nach Europa zu kommen, ertrunken, verdurstet oder erfroren sind. 20.000 sollen es seit 1988 sein. Und das sind nur die registrierten Fälle. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. „Wie viele noch“, war mein erster Gedanke. Der zweite: „Wann hört Europa endlich auf, dem Sterben tatenlos zuzusehen?“

    Bundesregierung und EU haben Betroffenheit und Mitgefühl mit der Situation von Flüchtlingen zum Ausdruck gebracht. Die EU hat dann aber verschärfte Kontrollen beschlossen.

    Jung: Die Erklärung des Brüsseler Gipfels ist ausgesprochen enttäuschend. Das klingt einfach nur kalt und herzlos. Statt die europäische Flüchtlingspolitik wirklich umzusteuern, hat man sich auf ein „Weiter so“ verstän­digt. Was jetzt notwendig wäre, ist aus meiner Sicht dreierlei. Erstens: Die Schaffung gefahrenfreier Wege für Flüchtlinge nach Europa. Das Zweite: Ein wirklich funktionierendes Seenotrettungssystem. Die Grenzschutzagentur Frontex ist dafür allerdings der falsche Akteur. Und drittens: Eine europäische Aufnahmeregelung, die die Verantwortung nicht auf die Länder an den Außengrenzen abschiebt und die die Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellt.

    Sie fordern die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Eingliederung von Asylbewerbern in das allgemeine System der Sozialleistungen. Welche Chancen sehen Sie dafür?

    Jung: Das ist ein Thema, das Menschen betrifft, die sich in Asylverfahren befinden, die zurzeit leider bis zu 18 Monaten dauern können, und Menschen, die schon lange in Deutschland ohne festen Aufenthaltsstatus leben. Sie dürfen aus Sicht der Evangelischen Kirche nicht ausgegrenzt werden. Sie dauerhaft in Sammelunterkünften unterzubringen oder ihnen den Zugang zu Sprachkursen und Arbeit zu verweigern, ist menschen­rechtlich nicht vertretbar. Es ist höchste Zeit, dass wir auch Asylbewerber und Geduldete in Integrationsmaßnahmen einbeziehen, und zwar vom ersten Tag an. Ich habe den Eindruck, dass diese Forderung in der Politik heute mehr Gehör findet als noch vor einigen Jahren.

    Die Bemühungen um Integration von Menschen fremder Herkunft werden oft skeptisch beurteilt. Bleibt Integration ein zentrales Ziel oder könnte das Prinzip einer Inklusion eine sinnvolle Leitlinie sein?

    Jung: Diese Frage betrifft jetzt nicht nur Flüchtlinge, sondern alle in einer zunehmend durch Migration geprägten Gesellschaft lebenden Menschen. In der Tat bin ich davon überzeugt, dass die Vorstellung, vermeintlich Fremde in eine homogene Aufnahmegesellschaft integrieren zu müssen, der Realität nicht mehr gerecht wird. Alle in der Migrationsgesellschaft – Menschen wie Institutionen – müssen lernen, mit zunehmender Vielfalt umzugehen. Und alle müssen gleichberechtigt an dieser Gesellschaft teilhaben können.

    Wirtschaftsverbände und soziale Einrichtungen werben um Fachkräf­te und Pflegepersonal aus dem Ausland. Die Resonanz darauf bleibt aber oft hinter den Erwartungen zurück.

    Jung: Es wird zurzeit ja viel von einer dringend notwendigen „Willkommenskul­tur“ in Deutschland gesprochen. In der Tat muss sich ein neues Leitbild in Behörden, Verwaltungen und Betrieben durchsetzen. Das ist bisher nicht überall gelungen. Zum zweiten gibt es in Deutschland immer noch erhebliche rechtliche Hürden für Zuwanderinnen und Zuwanderer. Und nicht zuletzt erleben Menschen mit Migrationshintergrund auch Diskriminierungen. Wie viele Studien zeigen, gibt es rassistische Einstellungen keineswegs nur an den Rändern unserer Gesellschaft.

    Sie haben Kirchengemeinden dazu aufgerufen, ankommende Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen. Was können Gemeinden tun?

    Jung: Es gibt zahlreiche Gemeinden und Dekanate, die sich nicht erst seit gestern um eine „Willkommenskultur für alle“ bemühen und Vorbildliches leisten. Ich habe ein aktuelles Beispiel vor Augen, wo es in einem Dekanat gelungen ist, eine anfänglich skeptische und in Teilen abweh­rende Haltung gegenüber der Unterbringung von Flüchtlingen umzudre­hen. Gelungen ist das durch das Engagement von 150 ehrenamtlichen Frauen und Männern, die sich spontan zu einem lokalen Flüchtlingsrat zusammengeschlossen hatten. Darüber hinaus sind Deutschkurse, Hausaufgabenhilfen, Begleitung bei Behördengängen, die Organisation von Wohnungen und Einrichtungen und immer wieder die direkte Kontaktaufnahme wichtig. In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau bereiten wir dazu gerade eine Handreichung vor und beabsichtigen, engagierte Gemeinden und Dekanate in Zukunft noch stärker zu unterstützen.

    Das Interview erscheint im „EKD-Dossier 2 - Flüchtlinge“. Die Veröffentlichung der Evangelischen Kirche in Deutschland ist hier kostenlos bestellbar: http://www.ekd.de/ekddossier/ 

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