Wahl & Inklusion
Viele Menschen mit Behinderungen können zum ersten Mal an der Bundestagswahl teilnehmen
Bildquelle: NRDAdrian Dürsch nimmt zum ersten Mal an der Bundestagswahl teil und sagt: „Ich finde es wichtig, dass ich als behinderter Mensch wählen gehen darf."24.09.2021 red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September sind laut Statistischem Bundesamt etwa 31,2 Millionen Frauen und 29,2 Millionen Männer wahlberechtigt. 85.000 davon sind Menschen mit Behinderung, für die ein Gericht einen Betreuer in allen Lebensbereichen bestellt hat. Erstmals dürfen sie aktiv mitentscheiden, von wem Deutschland künftig regiert wird. Bereits 2019 hatte der Bundestag die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse für behinderte Menschen, die in allen Angelegenheiten betreut werden, aufgehoben. Laut Presseberichten hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor deren generellen Wahlausschluss als verfassungswidrig eingestuft. Ihr Wahlrecht können jetzt auch viele Menschen mit Beeinträchtigungen ausüben, die durch die Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) unterstützt werden.
Inklusive Wahl: großer Schritt für Menschen wie Adrian
Adrian Dürsch ist einer von ihnen. Er freut sich über das inklusive Wahlrecht: „Ich finde es wichtig, dass ich als behinderter Mensch wählen gehen darf. Alle Menschen mit Behinderung sollen mehr mitmachen können, in allen Bereichen des Lebens.“ Und fügt an: „Es gibt viel, was die Politik ändern kann!“ Der 29-Jährige lebt in Mainz, dort im NRD-Wohnverbund in der Hegelstraße, arbeitet in der Rheinhessen-Werkstatt in Wörrstadt. Für kurze Strecken hat Adrian Gehhilfen, ansonsten ist er mit seinem Rollstuhl unterwegs. Ein aufgeweckter, junger Mann, der weder lesen noch schreiben kann, er ist von Geburt an Tetraspastiker (Arme und Beine sind gelähmt) mit einer geistigen Retardierung, hat Probleme mit der Raumlagewahrnehmung und konnte noch nie ein Leben ohne Unterstützung führen. Von seinem Wahlrecht hat er schon Gebrauch gemacht: Bereits bei den Landtagswahlen im März dieses Jahres beteiligte er sich – per Briefwahl.
Wahlentscheidung unterstützen durch Informationen in „leichter Sprache“
Vor der Wahl informiert sich Adrian Dürsch über die Programme der Parteien. Beispielsweise schaut Adrian gerne und oft Nachrichten im Fernsehen. Er wusste beispielsweise lange vor dem 26. September, dass dies eine ganz besondere Wahl werden würde, weil die Ära Angela Merkel zu Ende geht und Deutschland einen neuen Kanzler:in wählen wird. Auch seine Mutter begleitet ihn bei der Meinungsbildung: „Ich rede mit ihm über Politik. Besonders kurz vor Wahlen schauen wir uns zum Beispiel die verschiedenen Standpunkte der einzelnen Parteien genau an“, sagt sie.
Damit sich auch Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen angemessen über politische Themen erkundigen können, hat die „Aktion Mensch“ Informationsangebote und Wahlprogramme zur Wahl in leichter Sprache zusammen gestellt.
Aktion Mensch: Themen-Special zur Bundestagswahl in leichter Sprache
Aktion Mensch: Informationen und Wahlprogramme in leichter Sprache
Aktion Mensch: Erklärvideo zur Bundestagswahl
Technische Hilfe ist erlaubt
Nun will Adrian mithilfe seiner Mutter seine Partei bei den Bundestagswahlen wählen. Tatsächlich sind Hilfeleistungen einer anderen Person für die Betroffenen im Bundewahlgesetz vorgesehen. So heißt es in § 14, Abs. 5: „Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen.“ Die Unterstützung solle sich aber auf die technische Hilfe beschränken. Die Bedenken, dass die helfende Person auch Einfluss auf die Wahlentscheidung nimmt, möchte der Politikwissenschaftler Arndt Leininger nehmen: „Ein Missbrauch in dem Sinne, dass ein Dritter für eine andere Person eine Stimmt abgibt und somit zweimal wählt, halte ich für sehr selten. Dies ist theoretisch bei der Briefwahl möglich, wenn ein Haushaltsmitglied nicht für sie oder ihn bestimmte Briefwahlunterlagen ausfüllt und abschickt oder ein/e Pfleger*in einer/s geistig behinderten Wähler*in den Stimmzettel nicht in dessen Sinne ausfüllt. Das mag in extrem seltenen Fällen vorkommen, kann aber aus meiner Sicht kein Grund sein, über Einschränkungen der Briefwahl oder des allgemeinen Wahlrechts nachzudenken.“
Alltagserfahrungen und Wahlentscheidung
Adrian Dürsch weiß, warum er wählen wird: Er hegt die Hoffnung, dass sich die Situation für Menschen mit Behinderung weiter verbessert. Denn es gibt noch viel zu tun. „Mainz ist eine tolle Stadt, Adrian fühlt sich dort sehr wohl. Leider gibt es immer wieder Situationen, die ihm das Leben schwermachen“, stellt seine Mutter fest und spricht die oftmals arg eingeschränkte Barrierefreiheit im ÖPNV an. Um in den Bus zu kommen, muss der Fahrer aussteigen, um die Rampe händisch aus- und wieder einzuklappen. Nicht immer hätten die Fahrer da Lust drauf, sagt sie. „Andere Städte sind bei der Barrierefreiheit im ÖPNV schon viel weiter“, sagt Adrians Mutter.
Den Umstand, dass Adrian Dürsch im Rollstuhl oft angeguckt wird „wie ein Außerirdischer“, wie er es beschreibt, kann die Politik nur bedingt beeinflussen. Hier sind Offenheit und Akzeptanz von jedem einzelnen gefragt, Eigenschaften, die wiederum in unserer Demokratie selbstverständlich sein sollten. Auch deswegen geht er wählen.
mehr über Hilfe für Menschen mit Beeinträchtiungen / Inklusion
Informationen über die Kirche in leichter Sprache
[Joachim Albus, RH]
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